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Was wichtig ist. Eine Antwort auf Harald Lesch

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Über die Entdeckung eines neuen Elementarteilchens am europäischen Kernforschungszentrum CERN bei dem es sich vermutlich um das lang gesuchte Higgs-Teilchen handelt, wurde schon jede Menge gesagt. Nicht nur zur Wissenschaft selbst, sondern auch zum Medienrummel, den die Entdeckung ausgelöst hat (damit meine ich jetzt nicht nur die “Gottesteilchen”-Geschichte). Manchen Leuten geht die mediale Präsenz des Higgs auf die Nerven. Dazu gehört zum Beispiel Franz Josef Wagner von der BILD-Zeitung, der stolz darauf ist, nicht zu verstehen, um was es da geht und alles doof findet. “Kein Mensch versteht das”, meinte er und wir sollen uns doch lieber mit anderen Dingen beschäftigen (eine Replik darauf findet ihr hier). Seltsamerweise ist er hier einer Meinung mit dem Physiker und Fernsehmoderator Harald Lesch. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagt er zum Higgs Teilchen “Das versteht kein Mensch” und “Beschäftigen wir uns lieber mit realen Dingen.”


Jetzt möchte ich natürlich nicht die populistisch ausgeschlachtete Wissenschaftsignoranz des F.J. Wagner mit dem vergleichen, was Harald Lesch macht! Aber es ist schon ein wenig seltsam, dass beide offenbar der Meinung sind, man sollte die Öffentlichkeit nicht mit Informationen und Erklärungen zum Higgs-Teilchen behelligen. Harald Lesch sagt:

“Diese Sache ist für 99,9 Prozent aller Menschen nicht mehr nachvollziehbar. (…) Es gibt so viele andere Dinge, die viele Menschen auch nicht verstehen, die aber wirklich wichtig sind. Den Klimawandel zum Beispiel. Dafür sollten wir uns interessieren – und darüber sprechen, warum sich die Mehrheit dafür nicht zu interessieren scheint. Das Higgs bleibt am äußersten Rand der Wirklichkeit. Beschäftigen wir uns lieber mit realen Dingen.”

Ich habe ein paar Probleme mit dieser Aussage. Zuerst ist da das Wort “wichtig”. Das klingt so, als wäre die Forschung am CERN unwichtig. Was sie aber definitiv nicht ist. Was dort stattfindet, ist Grundlagenforschung. Ja, die Erkenntnisse der Grundlagenforschung können nicht sofort in verkauf- und patentierbare Produkte umgesetzt werden. Es ist nicht immer sofort klar, wozu sie brauchbar sind und was aus ihnen später entstehen wird. Aber sie bilden das Fundament – die Grundlage – jeder weiteren Forschung. Vielleicht dauert es 10 Jahre, vielleicht dauert es 50 Jahren, vielleicht auch 100 Jahre: Aber irgendwann wird die scheinbar “unwichtige” Grundlagenforschung Teil unseres Alltags sein. Als vor 400 Jahren die Gelehrten darüber stritten, ob nun das ptolemäische oder das kopernikanische Weltbild richtig ist und mit Deferenten, Exzentern und jeder Menge Mathematik um sich geworfen haben, da haben das 99.9 Prozent der Menschen auch nicht verstanden. Was in den himmlischen Sphären stattfindet, war für sie auch “am äußersten Rand der Wirklichkeit”. Deswegen war sie aber trotzdem wichtig! Man denke nur, wo wir heute ohne die Keplerschen Gesetze wären. Ohne sie gäbe es keine Satelliten, kein Kabelfernsehen, keinen Wetterbericht, kein Navi im Auto, und so weiter.

Beispiele dieser Art gibt es in der Wissenschaftsgeschichte haufenweise. Grundlagenforschung ist enorm wichtig. Ich bin mir sicher, dass Harald Lesch das auch weiß. Immerhin ist er Astrophysiker und seine Forschungsgebiete – Schwarze Löcher, Neutronensterne und ähnliches – sind für die meisten Menschen ebenfalls komplett unverständlich und “am äußersten Rand der Wirklichkeit” angesiedelt.

Dass Grundlagenforschung wichtig ist, bedeutet natürlich nicht, dass Themen wie der Klimawandel nicht wichtig sind. Hier liegt das zweite Problem mit Lesch Aussage. Man kann wissenschaftliche Öffentlichkeitsarbeit und Wissenschaftsjournalismus nicht nach Lehrplan machen. Wie soll das aussehen? “Liebe Leser, heute wurde am CERN ein neues Elementarteilchen entdeckt. Aber darüber schreiben wir heute nichts. Ihr versteht das alles sowieso nicht und außerdem ist es viel wichtiger, dass ihr was über den Klimawandel lernt. Also erklären wir jetzt den Klimawandel und irgendwann später, wenn ihr das alles verstanden habt, sagen wir euch vielleicht, wie das mit dem neuen Elementarteilchen ist.” So etwas funktioniert in der Schule und der Universität. Da kann man über Monate und Jahre hinweg das Wissen strukturiert vermitteln, mit den Grundlagen anfangen und dem “wichtigen” besonders viel Zeit widmen. Lesch, als Hochschullehrer des Jahres 2012, wird wissen, wie das geht. Harald Lesch ist aber nicht nur Wissenschaftler und Hochschullehrer, sondern auch Moderator im Wissenschaftsfernsehen. Und wenn es um Öffentlichkeitsarbeit geht, dann laufen die Dinge anders. Die Zuhörer an der Uni kommen freiwillig und wollen Bescheid wissen. In der Öffentlichkeitsarbeit und beim Wissenschaftsjournalismus geht es darum, auch Menschen zu erreichen, die mit Wissenschaft bisher eher wenig am Hut hatten. Da kann man nicht nach “Lehrplan” vorgehen.

Ich verstehe ja, wie Lesch das vermutlich gemeint hat. Der Klimawandel ist ein wichtiges Thema und es wäre wünschenswert, wenn die Menschen besser darüber Bescheid wissen, als sie es jetzt tun (Übrigens: Auch am CERN beschäftigt man sich mit dem Klimawandel). Aber deswegen muss man den Rest der Wissenschaft nicht ignorieren. Will man die Menschen erreichen, dann muss man ihnen zeigen, das Wissenschaft faszinierend ist. Und die Entdeckung eines neuen Elementarteilchens, eines fundamentalen Bausteins des Universums, finden sehr viele Menschen sehr faszinierend. Im Zuge der Berichterstattung über das Higgs-Teilchen haben sicherlich viele Menschen die das sonst nicht tun, die Wissenschaftsseiten der Medien gelesen. Und manche dieser Menschen dachten sich dabei vielleicht: Wissenschaft! Hey, das ist doch irgendwie interessant, was die da treiben. Und vielleicht lesen diese Leute auch noch am nächsten Tag die Wissenschaftsseite, weil sie sehen wollen, ob die Forscher auch noch andere interessante Sachen gemacht haben.

Ich gehe eigentlich davon aus, dass Harald Lesch das alles in etwa genau so sieht. Immerhin hat er ja jahrelang im Fernsehen über Themen geredet, die von den “realen Dingen” ebenso weit entfernt waren, wie das Higgs. Warum er in diesem Interview so geantwortet hat, kann ich allerdings nicht sagen. Vielleicht war er auch einfach nur genervt von den vielen Anfragen zum Higgs, die in den letzten Tagen auf ihn eingeprasselt sind… Trotzdem ist das Interview ziemlich enttäuschend.

Man kann wissenschaftliche Ergebnisse nicht so einfach in “wichtig” und “unwichtig” aufteilen oder in “hat die Menschen zu interessieren” und “brauchen die Menschen nicht zu wissen”. Will man, dass die Menschen sich für wissenschaftliche Themen begeistern, muss man sie zuerst und auch für die Wissenschaft begeistern. Und dazu muss man sich mit den Themen beschäftigen, die die Menschen faszinieren – selbst wenn sie “am äußersten Rand der Wirklichkeit” liegen.

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